Der heilige Verlorene


LYX Verlag | All Saints High #3 | 9783736311961 | 464 Seiten | 12,90€ | Dezember 2020
Der letzte Band der „All Saints“-Reihe von L. J. Shen liegt in meinen Händen und ich bin skeptisch. Nicht wegen ihres Sprachstils, der Derbheit oder den expliziten Szenen. Nein, nein. Es geht um Vaughn und Lenny. Beide waren mir bisher absolut und gar nicht sympathisch. Trotzdem lese ich als Fan der Autorin das Buch und bin gespannt, ob sie mich wieder von sich überzeugen kann.
Lenora aka Lenny ist eine sehr talentierte Künstlerin, die unbedingt auf eine der renommiertesten Kunst-Akademien in London gehen, die zufällig ihrem Vater gehört. Doch zu ihrem Entsetzen wird nicht sie für das ausgeschrieben Studium ausgewählt, sondern der unausstehliche und grausame Vaughn Spencer, seines Zeichens Künstler-Genie und Vollzeitmobber. Er hat ihre Schulzeit zur Hölle gemacht und will das in Zukunft anscheinend weiterführen. Doch hinter der gefühllosen Fassade steckt viel mehr, als Lenny je gedacht hätte.

Er kam näher, seine flache Brust berührte meine, die genauso flach war. Er roch nach etwas Fremdem, Gefährlichem, Wildem. Vielleicht nach goldenen kalifornischen Stränden. „Mein Dad sagt, dass brave Mädchen böse Jungs mögen. Und ich bin böse. Richtig böse.“ – S. 20
L. J. Shen bleibt auch in diesem Band ihrem Stil treu: Es werden zunächst Geschichten aus der Jugend der Protagonisten erzählt, die erläutern, warum sie einander so hassen – bzw. lieben. Ich gebe zu, dass es mir in diesem Band besonders schwergefallen ist, nachzuvollziehen, was in den Hirnen der Protas vor sich geht. Kunst ist wirklich nicht so meine Richtung und all diese selbstzerstörerischen, negativen und schweren Gedanken, die so durch die jungen Synapsen der privilegierten Oberschicht wandern, sind mehr als verstörend und nur bedingt nachvollziehbar. Klar, das ist L. J. Shens Stil, das ist der Reiz, aber irgendwie wars mir diesmal zu viel. Recherchearbeit und psychologischer Scharfblick sind hier nicht zu verachten und wieder hervorragend eingesetzt, aber es war diesmal nicht viel Entspannung dabei. Natürlich spielt dabei eine Rolle, was Vaughn passiert ist, was absolut schrecklich ist, aber die Auflösung hätte gern etwas ermunternder sein können. Aber ich denke, die Autorin wollte, dass es genau diese Gefühle auslöst. Es ist eben nicht immer alles fair und zufriedenstellend. Obwohl mir der Epilog dann doch etwas zu sehr Friede-Freude-Eierkuchen war. Ich weiß, ich bin nicht zufriedenzustellen.
Der letzte Band der Heiligen von Todos Santos dreht sich um Baron und Emilia Spencers Sohn Vaughn. Leider kann ich es nicht anders sagen: Er kommt wie ein krankhafter Psychopath rüber. Diese Hol-mir-einen-vor-versammelter-Mannschaft-runter-Nummer ist echt hardcore und definitiv ungesund, basiert aber auf dem, was ihm in viel zu jungen Jahren zugestoßen ist. Klar habe ich Mitleid mit ihm, aber manchmal fällt es mir echt schwer, seinem gequälten Künstlerdasein beizuwohnen. Er ist ungehobelt, gemein, ekelhaft, beleidigend und boshaft. Wieder einmal hätte ein einfaches Gespräch alles lösen können, was den jungen Mann bis in seine Zwanziger quält. Ich muss revidieren, es wäre absolut kein leichtes Gespräch geworden, aber es hätte unheimlich viel Kummer erspart. Auch für Lenny. Nicht nur, dass er glaubt, dass sie beobachtet hat, was ihm zugestoßen ist und sie damit ein Geheimnis teilen; er drückt ihr seinen Schmerz, seine Qual und seinen Ärger auf. Sie wird gemobbt, ausgeschlossen und misshandelt. Das geht nicht spurlos an dem jungen Mädchen vorbei. Auch wenn sie sehr willensstark ist und viel aushält, hat ihre Kraft grenzen. Sie schwört sich und ihren Peinigern Rache. Allen voran Vaughn. Doch er hat Rachepläne, die sich in eine ganz andere und monströse Richtung entwickeln. Ich muss schon sagen, beide haben echt ein bissi eine an der Klatsche, aber die Autorin kann es logisch erklären. Nachvollziehbarkeit ist nochmal was anderes, dafür bin ich einfach nicht kaputt genug. Beide sind beinah manisch, wirken ziemlich wahnsinnig, sind voller Ängste, Zweifel und Verlustgefühlen. Die Hormone drehen durch. Und die Schicksale, die sie durchleiden mussten, tun ihr übriges. Faszinierend, wie man sich so etwas ausdenken und niederschreiben kann. Lenny und Vaughn stecken in der Reinform einer toxischen Beziehung und handeln dabei geradezu gemeingefährlich, gleichzeitig tun sie sich auf abartige Weise gut und lieben sich quasi schon immer. Aber warum, Herrgott nochmal, tut man sich dann so eine Scheiße an? Wäre ich Psychologiestudentin hätte ich hier beim Analysieren meinen Heidenspaß!
Wie immer bei dieser Autorin wird hier dark romance vom Feinsten geboten: verrucht, pervers, faszinierend, reizvoll, grausam, liebevoll, abgefuckt, künstlerisch und poetisch wird die dunkle Seite des Lebens und der Liebe beleuchtet, was definitiv nichts für schwache Nerven ist. Beim Lesen taumle ich auf einem schmalen Grat zwischen Ekel und jeglichen anderen dunklen Gefühlen, die meine emotionale Bandbreite so hergibt sowie Faszination, Aufregung und Kribbeln. Es ist gut, aber auch furchtbar auslaugend. Ich werde mit Gedanken und Gefühlen konfrontiert, die ich sonst nie hätte, was ebenso beängstigend wie berauschend ist. Shen lässt mich oft mit einem Kopfschütteln und einem mulmigen Gefühl zurück. Sie schreibt Hardcore-Liebesgeschichten, die regelrecht weh tun. Ich will nichts beschönigen und kann die Autorin auch nicht guten Gewissens an alle Leser*innen weiterempfehlen. Doch wer Nerven aus Stahl hat und einen psychologisch tiefgründigen und ausgeklügelten Roman lesen will, sollte hier zugreifen. Ich bin gespannt, was ich in Zukunft von der Autorin zu erwarten habe.
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Danke fürs Lesen!
Bis zum nächsten Mal,
L🖤L
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